Schlechtflieger-Kolleg

Das mysteriöse Gleiten gegen den Wind

Häufig lasse ich mir – auch von erfahrenen Fliegern – erklären, dass manche Schirme gegen den Wind besonders gut gleiten. Wenn ich dann in die Diskussion einsteige, zeigt sich meist recht bald, dass viele glauben, ein Gleitschirm gleite gegen den Wind tatsächlich anders, als mit ihm oder quer zu ihm oder eben ohne Wind. Meist muß ich dann lernen, dass das mit den Böen zusammenhienge. Das Mißverständnis um diese Sache geht sogar so weit, dass ein Hersteller für die besondere Qualität seines Hochleistungsschirmes warb, Turbulenzen im Gegenwindflug konsequent in Höhe umsetzen zu können. Scheinbar ist das Mysterium um das Gleiten gegen den Wind groß, und so will nun auch meinen Teil dazu beitragen, für etwas mehr Verständnis in dieser Welt zu sorgen.

Los geht´s! Zunächst ist da immer diese Sache mit den…

 

…Bezugssystemen.

Man denke sich einen Gleitschirm, der in vollkommen ruhiger Luft Kreise fliegt. Am Boden steht die Freundin unseres Piloten, und weil sie eine echte Fliegerfreundin ist, beobachtet sie und natürlich genau. Für sie beschreibt der Gleitschirm ebenfalls Kreise. So weit kein Problem.

Nun soll aber ein konstanter Wind aus einer beliebigen Richtung wehen. Wind bedeutet, dass die Luft sich bewegt und weil wir unseren Wind vorerst als konstant annehmen, bewegen sich alle Luftteilchen gleich schnell. Man kann also sagen, dass das gesamte Luftpaket sich bewegt, und in genau diesem fliegen wir ja.

Da unser Pilot immer noch mit der gleichen Gewichtsverlagerung und dem gleichen Bremsleinenzug fliegt, muß der Gleitschirm also noch immer in der selben Kurve sein. Die Freundin am Boden sieht aber etwas anderes und wird skeptisch. Der Gleitschirm beschreibt       irgendwelche Eierkreise und wird dabei immer weiter mit dem Wind versetzt. Der Grund für die unterschiedlichen Beobachtungen liegt in den sogenannten Bezugssystemen. Für unsere Freundin ist die Welt einfach. Sie sitzt in der Wiese und alle Bewegungen spielen sich relativ zu dieser Wiese und der Erde, die an der Wiese hängt, ab. Uns am Gleitschirm interessiert die Welt da unten im Moment nicht, drum fliegen wir ja. Noch weniger interessiert sich unser Gleitschirm für den Boden weit unter uns, wie soll er auch, er hat ja keine Augen.

Physikalisch gesehen ist es für den Gleitschirm also egal, ob und in welche Richtung und wie schnell sich die Luft bewegt. Aerodynamische Kräfte, wie Auftrieb und Widerstand, sind von der Bewegung der Luftmasse gegenüber dem Boden vollkommen unabhängig. Für den Gleitschirm sind die Luftteilchen von Bedeutung, die er zur Seite räumen muß. Auch Eigenschaften wie Stallspeed, Trimm- und Höchstgeschwindigkeit haben mit der Luftmassenbewegung nichts zu tun.

Das ist, als ob ich meine Gummiente in der Badewanne kreisen lasse. Der Ente ist es völlig egal, ob die Wanne im Badezimmer steht, oder ob ich sie mit meinem Auto mit 200 km/h über die Autobahn jage – sie zieht stets unbeirrt ihre Kreise. Die Eierkreise, die wir vom Boden aus sehen, können wir mit dem vergleichen, was wir sehen, wenn im Dunkeln ein       Fahrrad an uns vorüber fährt. Obwohl die Reflektoren an den Speichen sich lediglich im Kreis drehen, sehen wir alles andere als Kreise.

Somit können wir auch das ewige Mysterium der „Rückenwindkurve“ klären. Diese unterscheidet sich von einer gewöhnlichen Kurve (in großer Höhe) dadurch, dass der Pilot den Boden sieht. Das klingt zunächst lächerlich, ist aber so. Und immer wieder geschehen in der Luftfahrt bei solchen „Rückenwindkurven“ Unfälle.

Der Pilot fliegt mit Rückenwind und leitet eine Kurve ein. Weil der Wind von hinten kräftig       schiebt, erscheint die Geschwindigkeit dem Piloten recht hoch. Dabei merkt er gar nicht, dass er sein Fluggerät schon ziemlich langsam fliegt. Mit der Geschwindigkeit geht er nun in die Kurve und bremst in der Kurve noch weiter an. So schnell ist ein Fluggerät zu langsam, aber wir sind ja jetzt schlauer.

Soweit alles klar? Dann überlegt euch zur Übung noch schnell die „Gegenwindkurve“, bevor es weiter geht mit…

 

…böhiger Luft!

Eine wichtige Einschränkung bei unseren bisherigen Betrachtungen war der konstante Wind. Wind also, der weder seine Richtung noch seine Geschwindigkeit ändert, wie wir ihn etwa beim soaren an der Küste haben. Diese Änderungen haben nämlich durchaus einen Einfluß auf aerodynamische Größen an unserem Gleitschirm. Wir werden sie ab jetzt unter dem Begriff Beschleunigung zusammenfassen.

Um den Einfluß von Beschleunigungen zu verstehen, erinnern wir uns daran, weshalb ein Flügel überhaupt fliegen kann. Dabei passiert nämlich nichts anderes, als dass die Richtung des Luftstromes (entlang der Profiloberfläche) und seine Geschwindigkeit (durch zusammendrücken der Stromlinien) geändert werden. So entsteht der Auftrieb, und weil man für jede Beschleunigung eine Kraft braucht, muß man also auch Energie aufwänden – womit wir den Widerstand hätten. Alle anderen aerodynamischen Kräfte resultieren dann aus diesen beiden.(?)

Allerdings war es bisher immer unser Gleitschirm, der auf die Luftteilchen gewirkt hat. Bei einer Böe passiert genau das Gegenteil, die Änderung der Beschleunigung kommt „von außen“. Und somit haben wir Auswirkungen auf die Aerodynamik am Gleitschirm.

Nehmen wir beispielsweise eine Böe, die den Gleitschirm genau von vorn trifft. Wenn dabei der Wind von 20 km/h auf 40 km/h zunimmt, fliegen wir nachher eben 20 km/h langsamer gegenüber dem Boden, unsere Fluggeschwindigkeit hat sich aber nicht geändert. Die Absolutgeschwindigkeiten sind also, wie schon anfangs bei den Bezugssystemen erläutert, nicht von Bedeutung. Interessant ist aber, was während der Windzunahme geschieht. Eine Änderung der Windgeschwindigkeit führt nämlich auch dazu, dass sich die Strömungsgeschwindigkeit am Profil ändert, und somit Auftrieb und Widerstand. In der Luft bekommen wir so etwas zum Beispiel bei thermischen Böen zu spüren, wenn also eine Thermikblase in unserer Nähe durchgeht und dabei Luft ansaugt. Da solche Böen aus jeder Richtung kommen können, ist es unwahrscheinlich, dass unsere Beispielböe jetzt genau von vorne kommt. Trifft sie den Gleitschirm von der Seite, so ist die Änderung der Auftriebs- und Widerstandskräfte am Flügel an der linken Flügelhälfte von der auf der rechten verschieden. Und das macht sich dann bemerkbar, indem unser Gleitschirm seine Schräglage verändert und somit eine Kurve fliegt.

Wer genau aufgepasst hat, wird schon seinen Schirm unterm Arm haben und in der Wiese nebenan auf die nächste Böe warten. Denn wenn eine Böe den Auftrieb verändert, müsste man in einer kräftigen, langen Böe ja richtig hoch steigen können. Würde sie unendlich lang dauern, könnten wir damit endlos steigen… Nun, ganz so ist es natürlich nicht, denn wenn man die Geschwindigkeit immer mehr erhöht, produziert ein Profil irgendwann fast nur noch Widerstand. Beim Gleitschirm kann das allerdings nicht passieren, der klappt vorher frontal ein.

Dennoch: Der Grund, weshalb Freaks wie MadMIKE aus der Ebene mal eben ein paar Meter in die Luft springen können, ist neben ihrem glänzenden Handling vor allem ihr ausgeprägtes Verständnis und ihre sensible Wahrnehmung für jede Art der Beschleunigung der Luft.

Genug von den Böen? Also kurz einen Kaffee holen, Gehirnmuskel entspannen und weiter geht´s!

 

Gleiten gegen den Wind

Ich wusste, dass euch das noch beschäftigt! Da waren doch noch die Gerüchte vom Steigen im Gegenwindflug und Wettkampfschirmen, die vor allem gegen den Wind besser gleiten sollen. Alors, pack mer´s!

Von Wettkampfschirmen wird häufig gesagt, dass sie vor allem gegen den Wind besser gleiten. Nun, diese Aussage ist zur Hälfte richtig, denn unbestritten gleitet ein Wettkampfschirm besser als andere Schirme. Das mit dem Wind hingegen ist natürlich Blödsinn. Die größere Gleitleistung macht sich beim Fliegen gegen den Wind lediglich stärker bemerkbar. Wenn wir mit unserem 1-2er eine Talquerung gegen die Jungs von der Nationalmannschaft fliegen, sehen wir ziemlich alt aus. Haben wir dann noch Wind auf der Nase, kommen die Jungs erst recht viel höher an. Daß dazu aber keine Besonderen Gleiteigenschaften für das Fliegen gegen den Wind nötig sind, wird uns spätestens dann klar, wenn wir die gleiche Talquerung mal mit richtig viel Rückenwind machen. Der unterschied zwischen den Geräten wird da plötzlich so gering, dass wir sofort versucht sind, mit unserer Wunderwaffe zum nächsten Wettkampf zu fahren…aber halt, das haben wir ja inzwischen kapiert.

Trotzdem haben die Leute, die das mit dem Steigen in Turbulenzen beim Flug gegen den Wind behaupten nicht vollkommen Unrecht. Das ganze ist nur sehr ungeschickt ausgedrückt.

Jetzt also doch, weiß er denn, was er will? Nun, lasst uns wieder ein bisschen in die Theorie einsteigen.

Ein Wettkampfschirm hat eine flachere Polare als ein Gleitschirm. Das bedeutet, dass die Gleitzahl sich beim Gas geben nicht ganz so drastisch verschlechtert, wie bei unserem 1-2er. Wenn wir nun nicht in ruhiger Luft gleiten, sondern in thermisch aktiver, dann macht sich wiederum ein Unterschied zwischen den beiden Schirmen bemerkbar. Beim einfliegen in einen Abwind hat unser Fluggerrät ganz plötzlich mehr Fahrt. Böen verändern nämlich den Anstellwinkel eines Flügels, weil die Strömung ganz plötzlich weiter von unten oder oben kommt.

Solche Anstellwinkeländerungen bedeuten Geschwindigkeitsänderungen und das heißt wiederum, dass wir uns auf der Polare hin und her bewegen. Denn es ändert sich ja unsere Fluggeschwindigkeit und somit die Sinkgeschwindigkeit. Wenn wir nun „hands up“, also mit offenen Bremsen und somit wahrscheinlich dem besten Gleiten in eine solche Thermikböe einfliegen, wird das Gleiten – egal ob wir die Geschwindigkeit erhöhen oder verringern – schlechter. Denn bestes Gleiten bedeutet, dass es nur schlechter werden kann.

Beim 1-2er ist das ziemlich blöd, weil wir die Geschwindigkeit nicht all zu sehr ändern brauchen, um schon wesentlich schlechter zu gleiten. Den Wettkampfschirm hingegen lässt das eher kalt, denn seine Polare ist ja viel „flacher“. Änderungen des Anstellwinkels und somit der Fluggeschwindigkeit wirken sich einfach nicht so böse auf das Gleiten aus.

Ergo verliert ein Hochleister beim Durchfliegen eines Bartes oder einer Böe weniger Höhe, als unser 1-2er. Und wenn wir das ganze gegen den Wind machen, wirkt sich das natürlich noch viel mehr aus. Alles klar? Dann könnt ihr in Zukunft ja über solche Wunderschirme schmunzeln. Oder ihr erklärt den Leuten, was Sache ist, dann seht ihr gleich, ob ihr´s wirklich verstanden habt.

Ich hoffe, damit sind ein paar Missverständnisse aus der Welt. Wenn etwas unklar ist, schickt uns einfach eine Mail, denn wir freuen uns natürlich auch, wenn wir unsere Texte vervollständigen können. Und meistens lernen wir selbst noch was dabei…

Stefan Bocks hat uns zum Thema noch weitere interessante Anregungen geschrieben:

comment: gleiten gegen den wind…als da mir noch ein paar Kleinigkeiten auf der Zunge liegen zum Thema Gleiten gegen den Wind.
Die Begründung alein durch die flacheren Polare hat da noch einen Haken da wäre zum Einen die Flächenbelastung
-da können die erflogenen Polare noch so flach mit dem Speedsystem erflogen sein, wenn sich die Kiste mangels zu geringer Flächenbelastung aufstellt, wie ein brünftiger Elch, segelt ein Schwergewichtiger mit einem modernen Schulungsschirm der nervösen Wettkampforchidee auf und davon (manche Kisten lassen sich ausserdem nur mit massiven Bremsorgien bei turbulenter Luft offen halten und das wirkt sich natürlich auch entsprechend schlecht auf die Leistung aus)

Und selbst bei gleichen Flächenbelastungen und ähnlichen Polaren ( die werden übrigens in der Regel auch nur in ruhiger Luft gemessen) gibt es enorme Unterschiede beim Gleiten gegen den (turbulenten) Wind. Wirklich ausgetrimmte Vögel sind weitaus weniger anfällig auf leistungsmindernde Pendler als ein hüpfender Aufziehfrosch, was sich durch mehrere Faktoren wie z.B. Leinenlänge, Profil oder die Relation vom Auftriebsschwerpunkt zum Piloten begründen lässt.

…und wenn zwar manche Hersteller glauben, ihr Gleiter würde besser durch turbulente Luft schneiden, mag das zwar nicht immer zutreffen, jedoch gibt es zweifellos enorme Unterschiede beim Vergleichsgleiten vom einen Buckel zum nächsten.

Habadere
Boxi

…und immer weiter so- eure Seite ist echt amüsant!

Gerade mit der Flächenbelastung spricht Stefan ein Thema an, welches beim Gleitschirm unglaublich komplex ist, nämlich Flugstabilität. Weil wir im Gegensatz zu Segelflugzeugen, die das Moment des Flügels mit einem Höhenleitwerk ausgleichen, vom Prinzip her ein schwerpunktstabilisierter Nurflügler sind; weil sich Massen relativ zueeinander bewegen können; weil sich die äußere Form des Fluggerätes verändern kann; weil sich die Steuerung sehr stark auf die Aerodynamik des Gerätes auswirkt – aus all diesen und noch ein paar mehr Gründen ist Flugstabilität ein Thema, für das wir uns selbst noch viele Gedanken machen müssen, bevor wir dazu ein Schlechtflieger Kolleg schreiben können…

Aber die direkte Beobachtung von Stefan ist natürlich für unser Gleitleistungsthema von großer Bedeutung: Jedes Pendeln und jedes Anbremsen kosten Leistung – direkt.

Andy Kohn (andy@schlechtflieger.de)

Quelle:
http://web.archive.org/web/20060927095756/http:/www.schlechtflieger.de/engineering/kolleg_gleiten/text.htm